LESEPROBE

Kapitel 1: Sterben


    Sie umfasste das Heft ihres Schwertes fester und schloss die Augen.
    Dann stürzte sie sich mit einem tiefen Seufzer in ihre eigene Klinge. Sterben war niemals einfach.


Kapitel 2: Augen wie Träume


     X schlug die Augen auf.
     Über die groben Brocken ihres Erbrochenen hinweg blickte sie sich entgegen. Sie spiegelte sich in der fettig glänzenden Murmel, die augapfelgroß und schwarz neben ihr am Boden lag. Ihr Spiegelbild sah beschissen aus, die Augen gerötet. Lagen tief in den Höhlen. Starrten leer.
     Ein Schauer fuhr durch ihren Körper.
     Sie rollte sich zur Seite und stemmte sich mit einem Keuchen hoch, bevor ihr Mageninhalt erneut nach oben drängte. Sie übergab sich, auf Händen und Knien, direkt neben dem Fleck aus Erbrochenen, den sie offenbar bereits im Schlaf zutage gefördert hatte.
    Als ihr Magen endlich aufgehört hatte, gewaltsam und schmerzhaft zu krampfen, wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund. Sie spuckte aus.
      »Pisse«, gab sie zum Besten und erhob sich endgültig vom Boden.
Das verlassene, ausgehöhlte Haus um sie herum war leer. Es stand wie ein Skelett in der Prärie und erinnerte nur noch vage an das tröstliche, warme Zuhause, das es wohl einmal gewesen sein musste. Der Farmer, der ihr diesen Auftrag gegeben hatte, würde wohl kaum wieder hier einziehen. Niederreißen, vielleicht. Aber niemand würde in dieser sturmgepeitschten Ruine leben wollen.
      Niemand, außer einem Omen.
X klopfte sich den Staubmantel ab und rückte die leere Schwertscheide an ihrem Gürtel zurecht. Dann bückte sie sich, hob die glänzende Murmel auf und steckte sie ein. Die würde sie brauchen, um ihre Belohnung einzustreichen. Die wenigsten ihrer Auftraggeber wussten wirklich, um was es sich bei den augapfelgroßen Perlen handelte, doch mit ihrem öligen Glanz und ihrer unangenehm weichen Beschaffenheit waren sie genug, um einen Laien davon zu überzeugen, dass der Job erledigt war. Das Omen getilgt. Schlaf wieder sicher. Die Pirscherin schnaubte. Die Abendsonne brach durch jeden Riss und jedes Loch der baufälligen Behausung und machte all die kleinen Partikel sichtbar, die anmutig durch die Luft schwebten. Es war still.
      X setzte sich in Bewegung. Ihre Schritte waren von der Jagd noch unsicher, wankend, und sie musste sich an Wänden und Gebälk festhalten, um nicht umzufallen. Die Überreste längst zerschellter Fensterscheiben knirschten unter ihren Stiefelsohlen. Es war das einzige Geräusch in dieser Ruine, neben ihrem flachen Atem und der Schwertscheide, die beim Gehen dumpf gegen ihr Bein schlug. Sie erreichte den Türrahmen des ehemaligen Eingangs und stützte sich daran ab. Duftende, mit der ersten Vorahnung der nahenden Nacht geschwängerte Wärme schlug ihr entgegen, die letzten Sonnenstrahlen des Tages beleuchteten ihre Umrisse. Es waren die Umrisse einer hochgewachsenen Frau in ihren späten Dreißigern.
      Einer Frau wie einer Waffe. Mit scharfen Kanten und hohlen Augen.
      Während sie einen Punkt am Horizont fixierte, an dem die heiße Abendluft flimmerte, schob sie eine Hand in ihre Manteltasche. Sie förderte eine etwas zerknitterte Zigarette hervor und steckte sie zwischen ihre Lippen. Nachdem sie sie mit einem Zündholz aus einer kleinen Schachtel mit der Aufschrift 'Blightisle's Finest' und der Abbildung einer zweiköpfigen Libelle angezündet hatte, nahm sie einen tiefen Zug.
      Sie behielt den Qualm eine Weile in den Lungen, bevor sie ihn mit einem tiefen Seufzen wieder ausstieß. Mit der Zigarette zwischen den Lippen löste sie sich vom Türrahmen. Nur wenige Schritte vor dem Gebäude hatte sie ihren Wagen geparkt. Mehr rohe Maschine als Automobil, mit Stollenreifen und braunrostigem Lack. Sie kletterte hinter das Steuer und startete den Motor. Mit einem Dröhnen erwachte das alte Biest zum Leben und sie lenkte es weg vom Haus auf die Straße.

      Der Himmel explodierte in den Farben eines halb verheilten Blutergusses, während der Wagen darunter dröhnend durch die Landschaft schoss. Hinter dem Steuer starrte X, die eben noch träumend und sabbernd und kotzend auf dem Boden eines leerstehenden Hauses in der Prärie gelegen hatte, mit schweren Lidern auf die Straße. Die Fenster waren heruntergekurbelt und der warme, staubige Wind fuhr ihr durchs Haar. Nackenlang und blond umrahmte es ihr schmales Gesicht mit den harten Kanten. Ein Arm lag im Fensterrahmen und sie spielte mit den Ringen an ihrer freien Hand, während die andere entspannt auf dem Lenkrad ruhte. Ihr Kopf schwamm und ihre Knochen ächzten.
      Ein Drink würde es richten. Viele Drinks würden sie vergessen lassen.
      Vor ihr lag die Straße nach Forsaken, einem vergessenen, reizlosen Kaff am Rande der hohlen Bucht. Sie sehnte sich nach einem weichen Bett und im besten Fall einem weichen Körper. Und zu ihrem Glück besaß Forsaken einen Saloon, in dem sie womöglich beides bekommen würde.

      X stieß die Schwingtüren mit beiden Händen auf.
      Die schwere, aufgeheizte Luft und der Geruch von Zigarettenrauch, Alkohol und Schweiß empfing sie wie eine Umarmung. Sie sog ihn durch die Nase ein und bahnte sich dann ihren Weg durch den Schankraum. Dabei klickten die schrägen Absätze ihrer Cowboystiefel auf den Dielen.
      Der Saloon war nicht übermäßig voll, aber gut besucht. Zwischen den offensichtlichen Einheimischen, die mit gelassenen Gesichtern allein oder in kleinen Gruppen an den Tischen saßen, befanden sich auch ein paar Reisende in der hübschen Zuflucht am Rande der Hohlen Bucht. An einigen Hüften blitzten Revolver, doch niemand trug eine leere Schwertscheide, so wie die blonde Frau, die sich soeben an einer Traube Menschen vorbeidrückte, die sich um das Mädchen am Piano versammelt hatte. Das hagere kleine Ding mit dem rötlichen Haar spielte eine ausgelassene Musik, die so gar nicht zu ihren traurigen, wässrigen Augen passen wollte.
      Die Pirscherin steuerte auf die Bar zu, neben der eine Holztreppe mit gedrechseltem Geländer in das obere Stockwerk führte. Und hinter der Bar - Schwester hab Erbarmen - stand das Gegenstück zur Pianistin.
      Die beiden waren offensichtlich verwandt, der Schwung ihrer Augenbrauen, die Krümmung ihrer Nase, alles war ähnlich. Und doch so herrlich anders. X beobachtete aus durstigen Augen, wie die Frau hinter der Bar sich von der Theke abstieß und dabei ihren dunklen Pferdeschwanz zurückwarf. Sie rückte mit einer Hand die schwarze Feder darin zurecht.
Unter dem Blick der Pirscherin griff sie unter die Theke und förderte zwei Flaschen Bier zutage. Sie hielt sie an den Hälsen über Kreuz hinter sich und öffnete dann eine davon mit einem gezielten Tritt.
      Beeindruckend, dachte X, während sie sich auf einem der freien Barhocker niederließ. Sie beobachtete, wie die Kleine die zweite Flasche mit einem Handkantenschlag an der Theke öffnete und anschließend beide vor zwei ähnlich begeisterte Gäste stellte. Schaum trat über die Flaschenhälse und färbte das Holz der Theke dunkel. Dann endlich wandte diese Erscheinung einer Bardame sich zu ihrem neuen Gast. Die Pirscherin erwartete sie mit einem kleinen, aber süffisanten Lächeln.
     »Was trinkst du, Fremde?«, fragte die Bardame routiniert, aber nicht unfreundlich.
     X knurrte, ohne ihr Lächeln zu verlieren.
     Sie legte beide Hände auf die Theke, flach, bis die vielen Ringe klangvoll auf dem Holz zum Liegen kamen. Dann tippte sie mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zweimal darauf.
     »Herrengedeck«, antwortete sie schließlich und der Klang ihrer Stimme war so rau wie die Dielen, auf denen sie heute stundenlang gelegen hatte.

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